Donnerstag, 26. März 2009
J.S. Bach und die Brunftorgie im Spiegel
Es gibt nicht nur die eine Krise, es gibt viele Krisen. Eine davon ist die angebliche Klassik-Krise, die Krise der großen klassischen Plattenfirmen wie DG, Decca, Philips und EMI. Nun muss das ja nicht schlimm sein, denn seit die großen Labels reihenweise künstlerisch Harakiri begehen, indem sie dubiosen Crossover-Mist mit teueren vermeintlichen Superstars produzieren, profitieren davon die kleinen, z.T. neugegründeten Labels, deren einziges Problem der Vertrieb ist. Aber es gibt ja zum Glück das Internet. Hier in unserer nicht mal so kleinen Stadt, gibt es nur ein Geschäft, wo man Aufnahmen abseits des Mainstreams der Electronic-Discounter und Drogeriemärkte aufstöbern kann, einen etwas skurrilen Highend-HiFi-Laden, der auch eine kleine, aber feine Auswahl von entlegenem Repertoire führt.
Wirklich schlimm ist jedoch, dass auch die Plattenkritik keine Beiträge zur Geschmacksschärfung der Leser mehr leistet. Gerade erst war bei Spiegel-Online ein besonders widerliches Beispiel dafür zu besichtigen, in dem sich aufs Abscheulichste Inkompetenz mit stilistischer Geschmacklosigkeit paart. Gegenstand der Besprechung ist die Neueinspielung von Bachs Missa h-moll BWV 232 unter der Leitung von Marc Minkowski, erschienen auf dem sehr rührigen Label "naive".
Der falsche Titel der Rezension ("Bach Oratorien") sei noch geschenkt, da wollen wir dem Autor zugute halten, dass den ein unfähiger weil ahnungsloser Online-Redakteur verbockt hat.
Die gröbsten sachlichen Fehler in diesem Text hat ein bezeichnenderweise englischsprachiger Kommentator dankenswerterweise bereits zurechtgerückt . Fast noch übler ist jedoch das stilistische Niveau dieses Textes. Kai Luehrs-Kaiser, der Name des Autors dieses Machwerks sei hier erstmals genannt, ist laut Auskunft der allwissenden Wikipedia Germanist und darf bei Spiegel-Online offenbar deshalb Musikkritiken schreiben, weil er irgendwann auch mal Musikwissenschaft studiert hat. Der Text liest sich wie eine lächerliche Ansammlung von Stilblüten. Kennt man den Gegenstand der Rezension - eine ordentliche, auf dem heutigen Wissensstand der HIP aufbauende, bisweilen arg gehetzt daherkommende, aber mit routinierten Kräften besetzte Aufnahme -

kommt man, je nach Temperament, aus dem Lachen oder Weinen angesichts der Ignoranz, die aus diesen Zeilen spricht, nicht mehr heraus. Keine Ursache für einen Daueraufenthalt im roten sprachlichen Drehzahlbereich mit ekstatisch hervorgepressten Halbsätzen ("Und...") oder schauerlich deplacierten barock geschraubten Metaphern ("sakrale Brunftorgie"). Wer so ahnungslos ist, dass er allen Ernstes die Missa BWV 232 für "Sakral-Entertainment zur Fastenzeit, wie es damals durchaus üblich gewesen sein könnte" hält, nicht wissend, dass in Leipzig zu Lebzeiten Bachs "tempus clausum" war, und daher die "Figuralmusik" zu schweigen hatte, sollte schleunigst seine Hausaufgaben machen, bevor er sich wieder daran macht, Rezensionen zu schreiben. Herr Luehrs-Kaiser hat offenbar auch nicht den leisesten Schimmer davon, worum es den Vertretern der HIP geht, wenn er mit der Stoppuhr in der Hand von "Höher! Schneller! Weiter!" faselt. Entlarvend auch die Einleitung mit ihrem Verweis auf die fehlenden Stars und den angeblich "ruinierten" Ruf von Minkowski bei Sängern, gemeint ist natürlich - oh- "Stars" aus der Oper, woher sonst. Nur wären die, sowohl aus finanziellen, als auch aus künstlerischen Gründen, bei einer solchen Produktion so überflüssig wie ein Knabensopran als Isolde. Was sollen die "Stars" bei der h-Moll-Messe: Eine Arie singen und dann das Podium verlassen und den Scheck mit dem fünfstelligen Betrag beim Produzenten abholen? Die Vokalmusik Bachs verlangt gute Ensembles, keine exaltierten Superstars. Es geht um den geistlichen Gehalt und um die Musik und sonst um nichts!

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