Dienstag, 5. Mai 2009
Fensterplatz II
Fensterplatz ist mir wichtig, beim Fliegen noch mehr als in der Eisenbahn. Daher hatte ich bereits online eingecheckt: Reihe 8, Sitz A, noch nahe genug an den Notausgängen aber ohne störenden Flügel. Den Blick frei nach unten. Wir würden über die Alpen fliegen, stabile Hochdruckwetterlage, später Vormittag, optimale Sicht! Das versprach Blicke auf verschneite Gipfel, grüne Täler, Alpenseen, Küsten, Inseln, traumhaft.
Die "Aussicht" darauf hatte mich sogar darüber hinweggetröstet, dass ich meine Kamera zu Hause liegengelassen hatte, aber das Ladegerät dabei hatte. Fotos durch Flugzeugscheiben werden sowieso selten schön. Als ich die Reihe 8 erreichte, war mein Platz besetzt.
Ein alter Holländer mit einem großen, flachen luftpolsterummantelten Paket saß nervös dort und bat mich umständlich und ausgesucht höflich um die Gunst, sich auf meinen Platz setzen zu dürfen, da sein sperriges Gepäckstück vom gestrengen Kabinenpersonal nur auf diesem Sitz geduldet werde.
Natürlich entsprach ich der Bitte, wie immer, wenn ich höflich gebeten werde. Aber das Vergnügen am Flug war mir durch diesen Versace und Rolex tragenden Greis mit seinen Diamantringen ruiniert.
Als er dann auch noch anfing zu schnarchen, 5000 m über dem Alpenhauptkamm, unter uns sonnenbeglänzte Gletscher, die bei gelegentlichem Rollen des Airbus in meinen Blick kamen, steigerte ich mich in unaussprechliche Hassfantasien, vornehmlich gegen mich selbst und meine verdammte Gutmütigkeit.
Auf dem Monitoren über den Köpfen der Passagiere liefen kanadische Versteckte-Kamera-Filme mit umfallenden Verkehrsschildern, eine Folge "Mr. Bean" von 1991, "Friends" und Musikvideos. Zu lesen hatte ich mir nichts mitgenommen, ich wollte ja aus dem Fenster schauen, das Bordmagazin, das im Netz der vor mir ordnungsgemäß senkrecht stehenden Rückenlehne bei den Kotztüten steckte, war unerträglich und beim Betreten des Flugzeugs hatte es nur noch die "Welt" gegeben.
Als der Alte, der jetzt mit geschlossenen Augen auf meinem Fensterplatz saß, nicht mehr schnarchte sondern röchelte, wich der Ärger jedoch der Angst, meinen Nachbarn könnten die Strapazen seines Jet-Set-Lebensabends überfordert haben.
Erfreulicherweise erwachte er über Genua, als die Gertränke serviert wurden und wollte mich für meine Gefälligkeit auf ein Getränk einladen, was daran scheiterte, dass die Getränke kostenlos waren. Im weiteren Gespräch, 9000m über den Balearen, erfuhr ich dann, dass er tatsächlich niederländischer Staatsbürger ist, ein Haus an der Costa besitzt, Vielflieger ist, und dass in dem Paket, das er während des ganzen Fluges fest umklammert hielt, ein 80 Jahre altes Ölportrait seiner Mutter war.
Ich nahm es ihm fast übel, dass er freundlich, höflich, interessant und damit ein angenehmer Mitreisender war. Ich hätte wirklich sehr gerne aus dem Fenster gesehen.

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