Montag, 14. Juli 2008
Es ist nicht normal
sein Wochenende so zu verbringen: Samstag 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr Probe, Sonntag 9.00 bis 11.30 Uhr Probe, 12.00 Uhr bis 12.30 kurzes Matinee-Konzert, ab 14.30 wieder Probe bis fünf. Und dann auch noch moderne skandinavische Chormusik, Cluster, Bitonalität und sperrige Tritoni inklusive. Und das ganze nach und vor hochintensiven Arbeitswochen im Musiksaal meiner alten Schule, wo sie die Schulhof die herrlichen alten Bäume gefällt haben und stattdessen einen Erweiterungsbau hochziehen werden. Der Kern des Chores sind Leute, die man seit mehr als 20 Jahren kennt, Spiegel des eigenen Alterns, seit zehn Jahren immer wieder mit Kleinkindern in der Probe, immer öfter Scheidungen, Elternsorgen, Hausbau als Gesprächshemen. Dabei tut man so, als wäre es noch wie früher, die gleichen Rituale, die gleichen Gesten, Blicke, Witze. Auch die gleichen Stücke singt man, und ich kann es nicht fassen, dass ich mit Anfang 20 damit meine Lebenszeit verbracht habe, mit Schütz, Reger, Bach, Distler, Poulenc, Mendelssohn, Bruckner, Penderecki, Pärt, Nysted, Petr Eben, Södermann, Rheinberger und all den Spirituals, natürlich den Spirituals, sogar schwarzbraune Volkslieder ("He Zigeuner") aus dem Giftschrank des Biedermeier, halbwegs erträglich gemacht durch das Gütesiegel der Hochkultur (Brahms, Schumann). Da singt man auch über die klebrige Deflorations-Lyrik eines Paul Heyse (" Dein Herzlein mild") hinweg, wenn im Konzert eine - Verlinkung würde man heute sagen - mit Stücken nach Texten von d'Annunzio, Eluard und Apollinaire stattfindet.
Chorsingen in diesem Alter kann ein ganzes Leben ruinieren oder es bereichern, je nach Perspektive. Vermutlich beides!

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